Die goldene Regel - Leonhard Ragaz

Leonhard Ragaz hat 1945 ein Buch "Die Bergpredigt Jesu" geschrieben, das 1983 auch in Deutschland/Gütersloh veröffentlicht wurde.
Darin wendet er die Frage-Antwort-Methode an. Die Teilnehmer stellen ihre Fragen an den/die ArbeitskreisleiterIn, diese gibt sie ins Gespräch ein und beantwortet sie wenn möglich.
Dieses Kapitel über die Goldene Regel lesen Sie auf den Seiten 172-180.
F. Wie steht es nun endgültig mit dem Verhältnis von Du und Ich in der Beurteilung und Behandlung der Menschen von Gott aus?

A. Jesus sagt darüber abschließend: „Alles nun, was ihr wollt, daß die Menschen euch tun, das sollt auch ihr ihnen tun; denn das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Mt. 7, I2.) s Vgl. Lukas 18, 7-B.

F. Wie ist das gemeint? Ist das bloß eine Nützlichkeitserwägung im Sinne des Wortes: "Do ut des: Ich gebe, damit du auch gebest?"

A. So kann man es mißverstehen; es ist aber etwas ganz Anderes, etwas ganz Andersartiges, etwas viel Tieferes. Es ist göttlich, nicht menschlich.

F. Was denn?

A. Es wird hier dem Menschen ein sehr einfacher Maßstab für das rechte Verhalten zu den Andern in die Hand gegeben: Beurteile und behandle sie so, wie du selbst möchtest beurteilt und behandelt werden, und du triffst unfehlbar das Richtige. Du willst von ihnen heilig gehalten werden, heilig gehalten vor allem in deinem Heiligsten: tue das den Andern gegenüber. Du willst, daß der Andere dich verstehe: versuche du selbst, ihn zu verstehen. Du willst, daß der Andere gegen dich wahr und offen sei: sei es selbst gegen ihn. Du willst das Recht haben, dein Heiligstes zu wahren: billige es auch ihm zu. Du willst, um das Höchste zu nennen, von ihm Liebe empfangen: gib auch du sie ihm. Kurz, alles was du für dich als recht, gut und schön empfindest: gib es auch dem Andern. Dann wirst du nie fehlgehen. Wir müssen uns so in den Andern hineinfühlen, uns so in ihn versetzen, als wären wir er selbst.

Das ist wieder eine fundamentale Umkehrung des gewöhnlichen Verhaltens. Gewöhnlich wollen wir, daß die Andern uns geben, was wir wollen, - aber wir wollen es ihnen nicht geben. Wir wissen in Bezug auf uns selbst merkwürdig genau, was recht ist - aber wir wissen es merkwürdig wenig in Bezug auf die Andern. Wir empören uns, wenn wir angetastet werden, besonders im Heiligsten - aber wir tasten die Andern ruhig an. Wir fordern für uns Verständnis - aber wir geben uns keine Mühe, sie zu verstehen. Wir fordern von den Andern Liebe - aber wir geben ihnen keine. Wir wissen alles genau für uns - aber wir wissen es nicht für die Andern. Wir sind egozentrisch, nicht heterozentrischl. Darum fordert Jesus wieder die Umdrehung um hundertachtzig Grad. Diess sei das Gesetz und die Propheten, das heißt: darin sei in bezug auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch die ganze Wahrheit Gottes und des Menschen enthalten.

F. Wie kann diese Umdrehung geschehen?

A. Wie immer: von Gott aus, dem Herrn und Vater. Er allein kann die Herrschaft des Ich brechen durch seine Macht und Liebe; er allein kann die egozentrische Haltung durch die heterozentrische ersetzen, indem er die theozentrische setzt, von der aus die anthropozentrische ihr Recht hat. Wenn wir Gott, den Herrn kennen, dann sehen wir über dem Andern das Recht, das er von Gott hat. Wenn wir Gott, den Vater kennen, dann begegnet uns im Andern, namentlich im Schwachen und Geringen, er selbst. Dann müssen wir uns in ihn hineinversetzen, müssen uns an seine Stelle setzen. Dann wird alles recht. Wir sind in Gott nicht Getrennte und werden in ihm eine Einheit. Das ist, auf dieser Linie, die ungeheure Revolution Christi: im Andern Gottes Recht erkennen und achten, das Recht des Menschen, das Recht des Bruders. Das ist seine Weltrevolution.

F. Ist unter dem Andern nur der Einzelne zu verstehen, oder auch Gemeinschaften, Völker, Rassen, Religionen, Kirchen und so fort?

A. Auch über ihnen ist das Recht Gottes, des Herrn. Auch mit ihnen sind wir verbunden durch den Vater. Auch in ihnen begegnet uns Gott. Auch mit ihnen sind wir Eins. Auch in sie müssen wir uns hineinfühlen. Auch an ihre Stelle müssen wir uns selbst versetzen: unsere Familie, unser Volk, unsere Rasse, unsere Religion, unsere Kirche. Das ist die tiefste Lösung des politischen und sozialen Problems. Das ist der Sozialismus und Kommunismus Gottes und Christi. Das ist das Ende des Krieges: des Klassenkrieges, des Völkerkrieges, des Rassenkrieges, des Religionskrieges - allen Krieges. Das ist der Gottesfriede unter dem heiligen Recht Gottes, des Herrn und Vaters.

F. Ist dieser Maßstab, mit dem wir das Verhalten zu dem Andern, dem Einzelnen und der Gemeinschaft, messen sollen, nun in Ordnung? Können wir nicht auch in Bezug auf uns selbst irren? Können wir nicht stumpf, kalt und arm und darum auch Andern nichts zu geben imstande sein?

A. Gewiß. Darum folgt aus der Regel Jesu, daß wir den Maßstab in Ordnung bringen. Es folgt daraus, mit andern Worten, daß wir an uns selbst arbeiten müssen, damit wir den Andern das sein können, was wir sein sollen. Wir müssen fein und feiner empfinden lernen, damit wir die Andern fein und feiner empfinden können. Wir müssen uns heilig halten, damit wir die Andern heilig halten können. Wir müssen uns reich machen, damit wir den Andern viel geben können. Wir müssen liebevoll werden, damit wir viel Liebe geben können. Wir müssen viel leiden - und das ist auch ein Sinn des Leides -, damit wir Andere in ihrem Leide trösten können. Wir müssen immer völliger Gottes werden, damit wir immer völliger in ihm des Menschen werden. Es gibt in diesem Sinne eine heilige Selbstliebe. Auch so sind Ich und Du verbunden. Darum lautet ja das große Gebot: «Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und mit allen deinen Gedanken, und deinen Nächsten wie dich selbst».1 Wie dich selbst! Das vergißt man oft. 1 Vgl. Matthäus 22, 34-40.

F.
Ist die Losung von der heiligen Selbstliebe nicht eine Gefahr?

A. Sie gilt nur im Verhältnis zum Andern: Nur um den Andern recht lieben zu können, dürfen, ja sollen wir uns selbst lieben.

F. Kann man nicht auch umgekehrt sagen: Nur vom Andern aus kommen wir ganz zu uns selbst, nur die Nächstenliebe lehrt uns die Selbstliebe?

A. Auch das ist tiefe Wahrheit. So hat das Wort einen gewaltigen Sinn: Sich im Andern sehen und den Andern in sich, das ist das Reich Gottes und der Weg zu ihm. Sich und den Andern in Gott sehen sich und dem Andern Gottes Recht geben, das Recht des Herrn und Vaters, sich mit dem Andern in Gott Eins wissen: das ist die Revolution der Religion wie die Revolution der Welt.
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